Ich bin nicht mehr links"Die längste Zeit meines Lebens war ich mir sicher, politisch auf der richtigen Seite zu stehen. Als Schülerin demonstrierte ich gegen den Golfkrieg, während meines Psychologiestudiums probte ich mit Häftlingen ein Theaterstück. Als die Flüchtlinge nach Deutschland kamen, nahmen wir nächteweise junge Männer aus Syrien und Afghanistan auf. Ich war links. Und links zu sein hieß für mich, aufgeklärt, kritisch und tolerant zu sein. Es bedeutete, an Gleichheit und Solidarität zu glauben und Menschen nicht einfach sich selbst zu überlassen. Diese Haltung war für mich politische und emotionale Heimat zugleich. Doch seit einiger Zeit verliere ich mein Gefühl der Zugehörigkeit. Das linksliberale Milieu, aus dem ich stamme, befremdet mich mehr und mehr."
"Diese gedankliche Enge versperrt auch den Blick auf die eigenen Widersprüche: Nationale Grenzen lehnt man zwar ab, aber die Grenzen rund um die eigene Komfortzone schätzt man umso mehr. Tatsächlich werden in meinem großstädtisch geprägten Bildungsbürgermilieu linksliberale Ansichten längst als die einzig wahre Form von Menschlichkeit gesehen. Besonders deutlich wird das in der Flüchtlingspolitik. Es gebe doch tatsächlich Menschen, die für eine Obergrenze seien!, rief ein Bekannter bei einem Brunch in die Runde. Und alle schüttelten den Kopf. Unvorstellbar! Ich schwieg. Ich wollte den Morgen nicht verderben. Denn manchmal, habe ich festgestellt, ist die Stimmung auch unter denen, die prinzipiell für Vielfalt sind, nur so lange gut, wie alle einer Meinung sind."
"Anfang des Jahres traf ich eine alte Freundin auf der Straße wieder. Es war kalt, und wir sprachen nur kurz, aber sie empörte sich trotzdem sofort über die Kölner Silvesternacht und das
racial profiling, das ihrer Meinung nach dort stattgefunden hatte. Meine Frage, wen die Polizisten denn hätten kontrollieren sollen, wenn nicht Männer, die den Tätern vom Vorjahr ähnelten, beantwortete sie nicht. Stattdessen sagte sie, dass die sexuellen Übergriffe damals doch nichts anderes als Oktoberfest-Grapschereien gewesen seien."
"Wozu diese narzisstische Selbstüberhöhung führt, bekam ich neulich in Berlin mit. Im Mauerpark im Bezirk Prenzlauer Berg gibt es einen Abschnitt, in dem die Mitglieder des Mauergarten-Vereins ihre Hochbeete haben. Dort, unter vielen zugezogenen Bullerbü-goes-Berlin-Familien gärtnert auch ein älterer Herr aus der DDR. Er kümmert sich um den Komposthaufen des Vereins. Schneidet Küchenabfälle klein, kauft kiloweise Würmer der Firma Superwurm, setzt sie hinein, schippt um und belüftet. Er macht Führungen für Schüler aus dem Wedding, von denen viele noch nie eine Tomate an einem Strauch gesehen haben. Vor einigen Monaten dann forderte ein anderes Vereinsmitglied per Mail den Ausschluss dieses älteren Herrn, weil er in der AfD ist. "Entnazifizierung" stand in der Betreff-Zeile. Ich habe den Mann getroffen. Er ist kein Björn Höcke. Er hat auf seinem Hochbeet auch nie eine AfD-Flagge gehisst. Er hat einfach nur Zucchini angebaut."
Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. - Kafka